Buchtipp No. 61 (2023): RICHARD DAVID PRECHT / HARALD WELZER: DIE VIERTE GEWALT. WIE MEHRHEITSMEINUNG GEMACHT WIRD, AUCH WENN SIE KEINE IST.

3. Auflage Frankfurt 2022.

Von Hans-Christian Riekhof

Ich gebe es zu: manche Bücher haben es schwer, meine volle Aufmerksamkeit zu erringen. In diesem Fall liegt es nicht am Thema: die vierte Gewalt im Staate – die Medien – ist für mich ein extrem spannendes und äußerst relevantes Themenfeld. Man denke nur an den Einfluss der (klassischen wie auch der digitalen) Medien auf die Prozesse der politischen Willensbildung etwa beim Brexit oder bei der Wahl von Trump zum Präsidenten der USA. Dieses Buch hatte es aus einem anderen Grunde schwer: ich fand bisher nicht den rechten Zugang zu den philosophischen Diskursen eines R.D. Precht.

Der Vertrauensverlust der Bürger in die Medien

Doch dieses Buch hat mich schnell gefesselt. Lassen wir die Autoren direkt zu Wort kommen: „Wie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gut dokumentiert, ist der Einfluss der Medien auf die Politik in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich, zuletzt sogar enorm gestiegen, bezahlt allerdings mit dem genannten Preis: dem dramatischen Vertrauensverlust der Bürger in die veröffentlichte Meinung.“ (S. 9). Damit ist das Programm und Anliegen des Buches auf den Punkt gebracht.

Eine zweite Passage: „Wer medial ‚Druck auf den Kanzler‘ ausübt, bestimmt über diesen Weg die Geschehnisse mit. Und die Frage ist: mit welchem Recht? Die Vierte Gewalt hat keinen Verfassungsrang, ihr Mitregieren ist nicht vorgesehen.“ (S.37)

Talkshow-Moderatoren suchen nach dem Dissens

Lassen wir die Autoren ein weiteres Mal direkt zu Wort kommen: „Vier oder fünf verschiedene Talkshows allein in den ersten beiden Programmen der Öffentlich-Rechtlichen müssen jede Woche mit Streitthemen gefüllt werden; wo soll so viel Dissens in einer auf Smartness getrimmten Mediokratie eigentlich herkommen? Und je weniger Ecken und Kanten die politische Klasse heute noch zeigt, umso mehr Keile müssen irgendwo hineingetrieben, vermeintliche Reibereien öffentlich gemacht und Polarisierungen behauptet werden“ (S. 122 f.).

Vielleicht sind Sie neugierig geworden, sich mit der Vierten Gewalt und deren veränderten Rolle und vor allem Wirkungsweise auseinander zu setzen. Die Autoren bieten hinreichend gut recherchiertes Material, und sie kommen zu nachvollziehbaren Bewertungen und Einschätzungen.

Journalisten sollten nach Lösungen suchen statt Probleme diskutieren zu lassen

Die Autoren fordern eine Weiterentwicklung des Journalismus: ein problemorientierter Journalismus reicht ihnen nicht mehr, sie fordern die Weiterentwicklung zu einem lösungsorientierten Journalismus (S. 254). Das bedeutet letztlich, unterschiedliche Lösungskonzepte zu den großen Problemen unserer Zeit Stellung zu beziehen und sie zu bewerten. Die Bewertung der Politiker unterschiedlicher Couleur einfach abzufragen, reicht ihrer Einschätzung nach nicht aus.

Precht und Welzer schlagen ferner vor, dass Journalisten mehr Energie als bisher für die Selbstreflexion aufwenden (S. 257). Für die Weiterentwicklung eines stabilen demokratischen Systems sehr bedenkenswerte Vorschläge.

Falls eine Neuauflage des Buches erforderlich werden sollte (was ich den Autoren wünsche), dann verdienen zwei Aspekte deutlich mehr Aufmerksamkeit: erstens das vollkommen unausgewogene Verhältnis von Meinung und Tatsachen in der medialen Berichterstattung (ich spreche bisweilen vom „faktenbefreiten Meinungsjournalismus“ …). Achten Sie einmal darauf: wieviel Meinungen enthält ein Bericht, und wieviel wertvolle, unabhängig recherchierte Hintergrundinformation?

Und zweitens der Umgang mit Zahlen, Vergleichen, Quantifizierungen in den Medien: wir brauchen eine deutlich höhere Qualität in der quantitativen Einordnung von Geschehnissen und ihren Wirkungen. Hoffen wir also auf eine erweiterte Neuauflage.

 

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