Buchtipp No. 68 (2024): Jean Drèze und Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche
München 2024.
Von Hans-Christian Riekhof
Indien hat gerade China als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst, dabei hat Indien die deutlich jüngere Bevölkerung und damit einen wichtigem demografischen Vorteil. Auch im Wirtschaftswachstum ist Indien in der jüngsten Vergangenheit China klar überlegen, auch wenn man nicht vergessen darf, dass das indische BIP heute nur etwa ein Fünftel des chinesischen BIP beträgt.
Nobelpreisträger Amartya Sen – der indischer Herkunft ist – und sein langjähriger Mitarbeiter Jean Drèze wenden sich in ihrem Buch der Entwicklung und den inneren Widersprüchen der indischen Gesellschaft (und das ist eine eher wohlmeinende Umschreibung) zu.
Der Aufschwung Indiens kommt nämlich nur einem sehr kleinen Teil der Gesellschaft zugute: „Die Geschichte der globalen Entwicklung bietet, wenn überhaupt, wenige andere Beispiele einer Volkswirtschaft, deren rasches Wachstum über einen so langen Zeitraum in nur solch geringem Maße auch die menschliche Not linderte.“ (S. 9).
Das ist das Kernanliegen der Autoren: den fundamentalen gesellschaftlichen Rückstand Indiens zu verdeutlichen, was Bildung, Schulwesen und Alphabetisierung, Korruption und Institutionen, Gesundheitsversorgung und Ernährung, die Rolle der Frauen in der indischen Gesellschaft, die generelle Entwicklung des Lebensstandards, die Energieversorgung, die Armutsbekämpfung und soziale Unterstützung anbetrifft.
Die Autoren ziehen sehr oft den – für Indien wenig schmeichelhaften – Vergleich zu China, aber auch zu Bangladesch, zwei Länder, die in fast allen der genannten Entwicklungsbereiche enorme Fortschritte vorweisen können. Sie analysieren diese Themenbereiche sehr kenntnisreich und untermauern ihre Analysen mit detaillierten empirischen Daten.
Jean Drèze und Amartya Sen haben auch einige konkrete Hinweise und Ratschläge, wie Indien in den genannten Bereichen schneller Fortschritte erzielen könnte. Einige indische Bundesstaaten sind in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung und den Abbau gravierender Benachteiligungen deutlich erfolgreicher – von ihnen ließe sich eine Menge lernen.
Sie analysieren das Funktionieren der demokratischen Institutionen Indiens und kommen zu dem Schluss, dass Interessengruppen und Lobbyisten einen (zu) großen Einfluss auf die demokratischen Entscheidungsprozesse haben. Sie verweisen ferner auf die Rolle der indischen Medien und deren einseitige und selektive Darstellung gesellschaftlicher Entwicklungen. Das schwache Abschneiden Indiens in Bezug auf die Entwicklung des Lebensstandards der breiten Bevölkerung findet Drèze und Sen zufolge in den Medien kein angemessenes Echo.
Eine kritische Würdigung erfährt auch die Ausgabenpolitik der Regierung. Das Verhältnis von Steueraufkommen und BIP ist in Indien im internationalen Vergleich sehr niedrig, und nach Einschätzung von Drèze und Sen werden weitgehend falsche Prioritäten gesetzt. Subventionen für Benzin und Düngemittel erreichen das Vierfache der Ausgaben für das Gesundheitswesen. Und die Steuerbefreiungen für Gold und Diamanten erreichen eine Höhe von mehr als 5% des indischen BIP- dieses Geld fehlt dann naheliegender Weise für Bildung und andere Aufgaben.
Wenn es in Indien in den vergangenen Jahren gleichwohl zu Verbesserungen in Bezug auf Gleichheit und Gerechtigkeit gegeben hat, dann ist das nach Einschätzung der Autoren auf die Unabhängigkeit der Justiz und auch des Obersten Gerichtshof zurückzuführen – Institutionen, die offensichtlich wichtige positive Impulse zur Weiterentwicklung der indischen Gesellschaft gegeben haben – eine gesellschaftliche Kraft, die wir in gleicher Form in China nicht vorfinden würden.
Wer die bisherige und die zu erwartende gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Indiens verstehen will, kommt nicht umhin, sich mit dem Werk von Jean Drèze und Amartya Sen auseinander zu setzen. Es lohnt auf jeden Fall.